Hohe Praxisrelevanz der neuen Rechtsprechung zu Reihengeschäften

Bei einem innergemeinschaftlichen Reihengeschäft kann die Warenbewegung nur einer von mehreren Lieferungen zugeordnet werden. Die Frage, wie diese Zuordnung erfolgt, ist seit langem umstritten. Das Dilemma in der Praxis ist, dass nämlich nur die bewegte Lieferung eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung oder auch eine steuerfreie Exportlieferung sein kann. Hierzu hat der Bundesfinanzhof sich nun mit zwei Urteilen eine neue Meinung gebildet (vgl. ausführlich Ronny Langer in NWB 2015 Seite 1684 – 1694).

Neue Rechtsprechung des BFH

Der BFH hat nun in zwei aktuellen Urteilen sehr klar formuliert, dass die bisher angewandten Regelungen nicht weiter gelten sollen. Abweichend von den bisherigen Regelungen kann es lt. BFH für die Bestimmungen der bewegten Lieferung nur darauf ankommen, wo und wer dem letzten Abnehmer die Verfügungsmacht verschafft hat. Der Transportauftrag, die Incoterms oder andere Indizien sollen nicht mehr maßgeblich sein. Daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen für die Rechnungsstellung bei Unternehmen, die in ein Reihengeschäft involviert sind.

Die Wirkungsweise der neuen BFH-Rechtsprechung soll an dem folgenden Beispiel verdeutlicht werden:

Der deutsche Unternehmer Müller verkauft Ware an den ebenfalls in Deutschland ansässigen Unternehmer Schmitz. Dieser verkauft die Ware weiter an den niederländischen Unternehmer de Jong. Die Ware wird von Müller direkt an de Jong in die Niederlanden geliefert.

Es liegt ein Reihengeschäft vor, da mehrere Unternehmer über denselben Liefergegenstand ein Kaufgeschäft abwickeln und die Ware von dem ersten Lieferanten direkt an den letzten Abnehmer gelangt. Die Ware wird von  Müller in Deutschland an de Jong in den Niederlanden befördert oder versendet. Die bewegte Lieferung ist daher der Lieferung Müller an Schmitz nach den bisherigen Regelungen zuzuordnen. Die Ware gelangt von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat. Es liegt eine innergemeinschaftliche Lieferung vor. Müller muss an Schmitz eine Rechnung ohne Umsatzsteuer mit dem Hinweis auf innergemeinschaftliche Lieferung schreiben.

Zwischen Schmitz und de Jong liegt eine ruhende Lieferung vor, der Ort der Lieferung ist in den Niederlanden. Schmitz muss sich daher in den Niederlanden registrieren und eine Rechnung mit niederländischer Umsatzsteuer an de Jong stellen.

Nach der neuen BFH-Rechtsprechung kommt es jedoch nicht mehr darauf an, wer die Ware bewegt (hier Müller), sondern lediglich, wann de Jong die Verfügungsmacht verschafft wurde. Sofern zwischen Schmitz und de Jong vereinbart wurde, dass de Jong über die Ware bereits bei Müller verfügen kann, ist die bewegte Lieferung der Lieferung von Schmitz an de Jong zuzuordnen. Schmitz müsste daher an de Jong eine Rechnung ohne Umsatzsteuer mit dem Hinweis auf innergemeinschaftliche Lieferung stellen. Die Lieferung Müller an Schmitz wäre die ruhende Lieferung. Diese hätte in dem hier vorliegenden Fall mit deutscher Umsatzsteuer zu erfolgen.

 

2. Verschaffung der Verfügungsmacht

Kernelement der neuen Rechtsprechung ist die Verschaffung der Verfügungsmacht. Die Verschaffung der Verfügungsmacht besteht darin, dass ein Unternehmer den Abnehmer befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen. Nach der ständigen Rechtsprechung von EuGH und BFH muss dem Erwerber wirtschaftliche Substanz, Wert und Ertrag an dem betreffenden Gegenstand übertragen werden. Die Verschaffung der Verfügungsmacht ist dabei in der Regel, aber nicht notwendiger Weise, mit dem zivilrechtlichen Eigentumsübergang verbunden. Auf den Besitz einer Sache nach § 932 BGB kommt es dabei nicht an. Auch durch die verwendeten Incoterms kann nicht bestimmt werden, wann Verfügungsmacht verschafft wurde. Incoterms regeln grundsätzlich nur die Gefahrenteilung zwischen den beteiligten Parteien.

Aus diesem Grund hat der BFH bereits in früheren Entscheidungen den folgenden Grundsatz definiert: Ob eine Übertragung der Verfügungsmacht vorliegt, richtet sich nach dem Gesamtbild der Verhältnisse. Dies kann nur auf der Grundlage der konkreten vertraglichen Vereinbarung und deren tatsächliche Durchführung beurteilt werden.

 

3. Handlungsempfehlungen

In der Praxis sollte man die Frage diskutieren, ob es sinnvoll erscheint, zukünftig den Ort der Verschaffung der Verfügungsmacht gesondert zwischen den beteiligten Parteien zu vereinbaren.

Die neue BFH-Rechtsprechung weicht von den Regelungen zum Reihengeschäft der Finanzverwaltung im Umsatzsteueranwendungserlass ab. Unternehmer, die sich an dem Umsatzsteueranwendungserlass orientieren, müssen bis zu einer evtl. Änderung des Umsatzsteueranwendungserlasses ihre Prozesse nicht zwingend überarbeiten. Sie können sich gegenüber dem Finanzamt auch weiterhin auf die Umsatzsteueranwendungserlasse berufen.

Es könnten sich dennoch steuerliche Risiken ergeben. Die Finanzgerichte sind nicht an den Umsatzsteueranwendungserlass gebunden. Sobald ein Rechtstreit über die umsatzsteuerrechtliche Behandlung bis zum Finanzgericht führt, wird dieses möglicherweise die neuen Grundsätze des BFH’s anwenden. In der steuerlichen Fachliteratur geht man davon aus, dass auch der Gesetzgeber und die Finanzverwaltung sich zukünftig an der neuen BFH-Rechtsprechung orientieren werden und das Umsatzsteuergesetz, die Umsatzsteuerdurchführungsverordnung bzw. die Umsatzsteueranwendungserlasse ändern. Schon vor diesem Hintergrund sollten Unternehmen ihre Prozesse zukunftssicher machen. Langfristig laufende Verträge sollten beim Abschluss hinsichtlich der neuen aufgestellten Grundsätze geprüft werden.

Auch könnte die neue Sichtweise des Bundesfinanzhofes dazu beitragen, in der Vergangenheit fehlgeschlagene Reihengeschäfte aus umsatzsteuerrechtlicher Sicht zu reparieren.

Konkret ergeben sich die folgenden Handlungsempfehlungen bei Reihengeschäften aufgrund der neuen Zuordnungskriterien der BFH-Rechtsprechung, die zweckmäßiger Weise bereits in den Verhandlungen der Lieferkonditionen und bei Vertragsabschluss beachtet werden sollten:

Die bestehenden Lieferstrecken sollten daraufhin analysiert werden,

(1) ob Reihengeschäfte vorliegen,

(2) wie sie abgewickelt werden und

(3) welche Risiken sich daraus ergeben könnten.

Für die Einrichtung neuer Lieferstrecken sollten Prozesse eingerichtet werden, insbesondere unter Einbindung von Vertrieb und Logistik, mit denen

(1) Reihengeschäfte erkannt werden,

(2) deren umsatzsteuerliche Behandlung geprüft wird,

(3) entsprechende Vereinbarungen geschlossen werden,

(4) deren Abwicklung implementiert und regelmäßig überwacht wird und

(5) die erforderlichen Dokumentationen angestoßen werden.

Es sollte in allen Fällen nachweisbar vertraglich vereinbart werden, wann und wo die Verfügungsmacht übertragen wird. Dabei ist darauf zu achten, dass keine widersprüchlichen Vereinbarungen zwischen den Beteiligten getroffen werden.

Es sollte darauf geachtet werden, dass die Zuordnung der Warenbewegung in der Gesamtschau zweifelsfrei ist. Auch wenn die folgenden Indizien nicht allein entscheidungserheblich sind, sollten sie dennoch ein auf die Verschaffung der Verfügungsmacht ausgerichtetes einheitliches Gesamtbild ohne Widersprüche untereinander und auf allen Lieferstufen ergeben:

–      Lieferbedingungen,

–      Incoterms,

–      Inhalt der Kaufverträge,

–      Transportverantwortlichkeit

–      Zahlung der Frachtkosten,

–      Bezahlung des Kaufpreises vor oder nach Transportbeginn,

–      Mitteilung über Weiterverkauf,

–      Verpflichtung und Absichtsbekundung des B, die Liefergegenstände in ein anderes Land zu transportieren,

–      Verwendung der Umsatzsteuer-Identifikationsnummern,

–      Abrechnung mit oder ohne Umsatzsteuer

 

Gerne unterstützen wir Sie bei der Anpassung Ihrer Prozesse oder bei der Beantwortung von Einzelfragen zu der konkreten umsatzsteuerlichen Abwicklung von Lieferungen oder sonstigen Leistungen und stehen für die Beantwortung von Rückfragen jederzeit gerne zur Verfügung.

Bei detaillierten Fragen sprechen Sie uns bitte an. Ihr Ansprechpartner in unserem Hause ist:

WP/StB Hans-Josef Demmer
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